Berlin/Frankfurt am Main, 5. Januar 2016 (ADN). „Souverän ist der Bürger, der sich vertreten lässt.“ Dieser kurze Satz fällt inmitten eines ganzseitigen Beitrags in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ) vom Donnerstag. Autor ist Bundestagspräsident Norbert Lammert, der seine Sicht auf staatstragende deutsche Angelegenheiten ausführlich ausbreitet. Es sei eine spitze Formulierung, mit der er eine viel längere, etwas verschachtelte Definition des Philosophen Volker Gerhardt offensichtlich abkürzen und verständlicher machen wollte. Im Grunde soll damit und mitsamt des ganzen Elaborats die derzeit immer häufiger angezweifelte, repräsentative Demokratie gerechtfertigt werden. Der Pressebeitrag, der von Begriffen wie Reich, Nation und Volk sowie deren Derivaten durchtränkt wird, ist eine Reaktion auf weitgehende nationale Wirrnis, auf wachsenden Bildungsnotstand und auf den fühlbar immer chaotischer werdenden Zustand in einer zerbrechenden Gesellschaft.
Dreh- und Angelpunkt des von Lammert Dargestellten ist die Widmung „Dem deutschen Volke“ von 1916 auf dem Berliner Reichstagsgebäude. Deutschland sei heute glücklicherweise anders als vor hundert Jahren. Fast 20 Prozent der Bevölkerung hätten ausländische Wurzeln. Im Übrigen sei „Volk“ ein schillernder Begriff und alles andere als eindeutig. Bereits die Brüder Grimm hätten darunter im Deutschen Wörterbuch 15 Bedeutungen mit noch weiteren Unterbedeutungen aufgelistet. Mit einem weiteren Blick in die Historie lenkt der Bundestagspräsident die Aufmerksamkeit des Lesers auf Christoph Martin Wieland und gibt den Dichter mit dem einleuchtenden Satz aus dem Jahr 1792 wieder „Wer das deutsche Reich aufmerksam durchwandert, lernt zwar Österreicher, Brandenburger, Sachsen, Pfälzer, Baiern, Hessen, Württemberger, usw. mit etlichen hundert … kleineren Völkerschaften, aber keine Deutschen kennen.“
Übertragen aufs Staatsbürgerschaftsrecht dürften diese klaren Worte bestens geeignet sein, die staatliche Architektur wieder in dieses, bereits bis 1933 weitgehend existente und bewährte Mosaik von mehr als zwei Dutzend Volksstaaten und regionalen Souveränen zu versetzen und wieder in Betrieb zu nehmen. Dann wiche die vor allem seit den Nazizeiten permanente Furcht in den Nachbarländern und im Ausland insgesamt vor einem zu großen und zu mächtigen Deutschland automatisch. Insofern sollte Wielands noch berühmterer Zeitgenosse, Johann Wolfgang von Goethe, beim Wort genommen werden. Der Dichterfürst empfahl, das zu erwerben und zu besitzen, „was du ererbt von Deinen Vätern“. Davon schreibt Lammert allerdings nichts.
Den wenig erhellenden und zweideutigen Darlegungen des Präsidenten des Deutschen Bundestages über die repräsentative Demokratie ist die unverblümte, sogar schroffe Demaskierung des Rechtsphilosphen und Völkerrechtlers Hans Köchler aus Innsbruck entgegenzusetzen. Zwei Tage zuvor fällt er in der Schweizer Wochenzeitschrift „Zeitfragen“ ein klar negatives Urteil über diese Art Demokratie. Entscheidend sei, „dass in einem solchen repräsentativen System sich der einzelne eben nicht als freier und gleicher Bürger verwirklichen kann, da letztlich über ihn verfügt wird.“ Diese Problematik sei seit dem Ende des Kalten Krieges noch viel deutlicher geworden. Demokratie werde sowohl im akademischen als auch im allgemein politischen Diskurs und in den Medien zumeist völlig unreflektiert als sogenannte „repräsentative Demokratie“ verstanden. Er verdeutlicht, dass es sich bei Demokratie begrifflich um Herrschaft des Volkes und nicht um Herrschaft über das Volk oder im Namen des Volkes handelt. Über ein solches Machtverhältnis über das Volk müsse dann offen geredet und dafür ein ganz anderer Ausdruck verwendet werden. Die Bezeichnung „Monarchie“ oder „Oligarchie“ wäre dafür adäquat. Mit dieser Einschätzung stehe er im Übrigen nicht alleine. ++ (de/mgn/05.01.17 – 005)
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