Journalistische Selbstzweifel wachsen – Mediale Innenbetrachtungen zwischen Misstrauen und Skepsis

Hamburg, 14. juni 2019 (ADN). Der Täuschungsfall des Journalisten Claas Relotius aus der Redaktion des Hamburger Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ bestimmte den Auftaktag der diesjährigen Jahrestagung der Organisation investigativer Journalisten „netzwerk recherche“ (nr) am Freitag in Hamburg. Es wurde konstatiert, dass die Stimmung der Konsumenten deutscher Medien zwischen Misstrauen und Skepsis schwankt.  Zuschauer, Zuhörer und Leser messen den Jahrelangen Betrugsmanövern von Relotius eine Schlüsselposition in der Beurteilung über  eine wahrheitsgemäße Informationsversorgung sowohl durch die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten als auch durch die maßgeblichen privaten Medien zu. Auf der Tagung wurde generell festgestellt, das sich der deutsche Journalismus intensiv und kritisch mittels eigener Innenbetrachtungen mit sich selbst auseinandersetzen muss. Nur so könne eine neue Basis für Glaubwürdigkeit aufgebaut werden. Den Bürgern sei Verständnis entgegenzubringen, wenn sie die Neutraltät und Unabhängigkeit der Presse-Berichterstattung angesichts der Vorgänge in Deutschlands Leitmedien in Zweifel ziehen. Der gerade neu aufgetauchte Betrug eines langjährigen Mitarbeiters des Senders RTL bestätige das. Der Kommunikationswissenschaftler Prof. Volker Lilienthal stellte fest, „Relotius hat ideologische Narrative bedient“. Dazu gehöre die Blutrache in Albanien und auf dem ganzen Balkan, die angeblich in dieser Region nach wie vor vorherrscht. Dieses Vorurteil durchwabere zahlreiche Redaktionen. Statt über die Wirklichkeit sach- und wahrheitsgemäß zu berichten, werden „Geschichten“ so zurechtgebogen, dass sie der bestehenden Vorstellungswelt von Redaktionsleitungen entgegen kommen.

Nach den Worten der ehemaligen Chefredakteurin der „Berliner Zeitung“ Brigitte Fehrle, die zur Spiegel-Aufklärungskommission gehörte, sind die tatsächlichen Ereignisse rund um den Relotius-Fall noch viel tiefgreifender, bedrückender und besorgniserrregender als es in der Außendarstellung verdeutlicht wird. Die innerredaktionelle Aufarbeitung beim Hamburger Nachrichtenamagazin habe erheblich zu wünschen übrig gelassen. Das für Verfälschungen sehr anfällige Gesellschaftsressort als Aushängeschild des Printmediums sei in seiner Arbeit fernab der Wirklichkeit tätig gewesen und habe innerbetriebliche Kritiker versucht zu desavouieren. Zu ihnen gehört Juan Moreno, der als freier Mitarbeiter beim „Spiegel“ auf eigenes Berufsrisiko hin die Relotius-Lawine in Bewegung setzte und am Sonnabend für diese Leistung den nr-Preis „Leuchtturm für besondere publizistische Leistungen“ verliehen bekam.

Bisherige journalistische Praktiken versuchte der Chef der ARD-Tagesschau Kai Gniffke zu relativieren und zu rechtfertigen. Als Beispiel dafür, dass die Entscheidungen im Norddeutschen  Rundfunk (NDR) kaum angreifbar sind und unabhängig getroffen werden, nannte er den Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten. Darüber habe die Tagesschau nicht berichtet, weil auch eine persönliche Beziehungstat naheliegen könnte. Dennoch hätten fast alle anderen Medien darüber in aller Ausführlichkeit berichtet. ++ (me/mgn/14.06.19 – 163)

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Kumpanei zwischen Medien und Politik – Journalisten können Polizei nicht von Staatsanwaltschaft unterscheiden

Leipzig, 12. April 2016 (ADN). Es gibt teilweise ein Kartell zwischen Medien und Politik. Diese Kumpanei wird sogar eingestanden. Das sagte der Leiter des Korrespondentenbüros der Wochenzeitung „Die Zeit“ in Dresden, Stefan Schirmer, am Dienstagabend in Leipzig bei einer Podiumsdiskussion zur Zukunft des Enthüllungsjournalismus. Es müsse mehr kritische Medienmagazine geben wie das vom Norddeutschen Rundfunk (NDR) produzierte Format ZAPP. Zur versteckten und kaum übersehbaren Abhängigkeit des Journalismus von wirtschaftlichen Interessen verwies Schirmer auf ein aktuelles Beispiel. So richte der deutsche Pharmakonzern Bayer an der Universität Köln eine Stiftungsprofessur für investigativen Journalismus ein. Ähnliches vollziehe sich auch im Ausland. In den Vereinigten Staaten von Amerika (USA) zeige sich das bereits erreichte Ausmaß. Dort habe das Mäzenatentum für mediale Projekte inzwischen eine Unterstützungssumme von einer Milliarde US-Dollar erreicht. Das solche Assoziationen auch in Deutschland entstehen, bemerkte Prof. Volker Lilienthal vom Institut für Journalistik und Kommunikationswissenschaft  der Universität Hamburg. Einem internen Aufruf zur Unterstützung des kritischen Journalismus an Stiftungen, von denen es in Deutschland rund 1.000 gibt, seien bislang tatsächlich nur acht gefolgt. Nach seiner Meinung können Stiftungen ohnehin nicht die Finanzprobleme in diesem Bereich lösen. Das gute alte „Abo“ sei wohl hilfreicher. Ob Genossenschaften in Betracht kommen und zweckmäßig sind, bezweifelt Lilienthal. Der Vorsitzende des Deutschen Journalistenverbandes (DJV), Prof. Frank Überall, verwies auf den Auto- und Reisejournalismus, der fast durchgängig von ökonomischen Interessen geprägt ist. Dort handelt es sich einmal mehr um Fernsteuerung, sondern um direkte Einflussnahme von Seiten der betreffenden kommerziellen Branchen.

Einvernehmen fand die Feststellung, dass der investigative Journalismus auserlesenes und hochqualifiziertes Personal benötigt. Es wachse nicht auf den Bäumen und seine Ausbildung brauche Zeit. Darin bestehe ein Hauptmangel. Der Tatbestand, dass viele junge Journalisten nicht einmal die grundsätzlichen Unterschiede zwischen Polizei und Staatsanwaltschaft kennen, belege schlaglichtartig bestehende substanzielle Mangelerscheinungen im Medienbereich. ++ (me/mgn/12.04.16 – 103)

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